Sonntag, 5. Juli 2015

In die Notaufnahme...

Letzten Sonntag habe ich das schlimmste Geräusch meines Lebens gehört:
den panischen, schmerzerfüllten Schrei meines Kindes.


Von vorn:
Am Nachmittag standen wir noch alle gemeinsam auf der Bühne zum Sommerkonzert. Fiona als stolze Instrumentalistin mit ihrer Melodica zum ersten großen Konzert und ich als Dirigentin des Orchesters.
Vorher kann man nicht so richtig essen, durch die Anspannung, ob alles klappt wie geprobt. Aber wir hatten uns hinterher zum gemütlichen Grillen im Garten bei meinen Eltern verabredet, die natürlich auch auf und neben der Bühne zu tun hatten.

Das Konzert hat super geklappt, ich hatte Tränen des Stolzes und der Rührung in den Augen, als ich mein großes Kind so selbstbewusst und souverän auf der Bühne gesehen habe. Mit diesem euphorischen Glücksgefühl fuhren wir zum Grillen.

19 Uhr. Fiona fragte, ob sie kurz rüber zu ihrer Freundin gehen dürfe. Klar. Sie nahm ihr Fahrrad mit.
Das Essen stand fertig gegrillt auf dem Tisch, wir wollten uns gerade setzen. Da hörte ich den schlimmsten Schrei, den ich in meinem ganzen Leben je gehört habe.
Ich bekomme noch heute, eine ganze Woche später, eine Gänsehaut und ein sehr mulmiges Gefühl, wenn ich das aufschreibe.
Es gibt Schreie, bei denen du instinktiv weißt, dass etwas Schlimmes passiert sein muss.
"AAUUUUUUUUUUUU AAAUUUAAA AAAAUUUU!!!!!!!".

Papa und ich rannten so schnell wie wir konnten zum Gartentor, wo Fiona stand und schrie. Sie schrie so, dass mir jetzt noch Tränen in die Augen steigen, wenn ich nur daran denke.
Meine Eltern haben ein Automatiktor, das durch einen Taster auf der Innenseite bedient wird und dann automatisch öffnet und schließt. Fiona hat ihn schon 1000 Mal bedient. Beim 1001. Mal ist es passiert. Sie hatte die Hand zwischen Pfeiler und Tür (!) gesteckt und auf den Schalter gedrückt. Jedenfalls konnte sie ihre Hand nicht schnell genug herausziehen und wurde zwischen Pfeiler und Tor eingequetscht. Das Tor blieb stehen und blockierte. Ihre Schreie hallen in meinem Kopf nach seit einer Woche. Am Schlimmsten war aber das Gefühl der Hilflosigkeit, als mein Mann und ich versuchten, sie zu befreien, sich das Tor aber keinen Millimeter bewegte!! Kein Stück! Ich rief so laut und panisch um Hilfe, dass sogar die Nachbarn auf die Straße liefen. Mein Kind schrie vor Schmerzen und ich konnte nichts tun! Dieses Ohnmachtsgefühl...so schlimm.
Wenige Sekunden später, die mir wie eine endlose Zeit vorkamen, zogen wir - ich weiß es nicht mehr - zu viert oder fünft an dem schweren Tor, rissen es aus der Verankerung und konnten Fiona befreien. Sie weinte und schrie noch immer, ihr Handgelenk hatte oberflächlich nur leichte Abschürfungen, wurde aber schon dick.

Ohne zu zögern ließen wir das Baby bei meiner Mama, setzten die weinende Fiona mit einem Kühlakku ins Auto und fuhren direkt in die Notaufnahme. Unser Nachbar rief mir noch zu, dass das große Unfallkrankenhaus immer sehr voll sei und wir es lieber im "Wald-und-Wiesen"-Krankenhaus versuchen sollten (ein liebevoller Spitzname für das kleine Krankenhaus, in dem vor vielen Jahren ich selbst und 2014 auch Felicia zur Welt kam). Ich fuhr schneller als ich durfte und wurde wütend, wenn Sonntagsfahrer auf der Suche nach einem Parkplatz langsam fuhren und nicht blinken konnten. Ich bin eigentlich kein aggressiver Autofahrer, stand aber wohl irgendwie unter Schock. Das Kind auf dem Rücksitz jammerte, "Auuu, es tut soo weh!!".

In der Einfahrt zum Krankenhaus sagte der Pförtner schon, wie voll die Rettungsstelle heute sei. Drinnen angelangt, lasen wir auch, weshalb: das Pflegepersonal der Charité streike, deswegen herrsche Ausnahmezustand in den Rettungsstellen der Krankenhäuser und man möge die langen Wartezeiten entschuldigen. Papa trug die weinende Fiona auf dem Arm in die Notaufnahme.
Auf den Gängen standen Betten mit Patienten, alle Räume waren als Wartezimmer umfunktioniert worden, Menschen saßen, standen und lagen, wohin das Auge reichte und ständig kamen Sanitäter mit neuen Patienten aus dem Rettungswagen. Zuerst saßen wir noch zu dritt auf zwei Stühlen in der Anmeldung und hatten beide mit den Tränen zu kämpfen. Dann hieß es, nur einer könne mit dem Kind warten, der andere müsse im Wartebereich vor der Notaufnahme Platz nehmen.
Ich wurde mit der noch immer schluchzenden Fiona in einen abgedunkelten Raum geführt, in dem zwei Betten und ein Stuhl standen. Beide Betten waren belegt mit Menschen am Tropf und deren Begleitung. Ich nahm Fiona auf den Schoß, setzte mich auf den Stuhl und hoffte, dass wir nicht bis Mitternacht würden warten müssen...

Auf dem Gang liefen ständig Krankenpfleger und Ärzte vorbei, warfen einen kurzen Blick in das Zimmer und gingen hektisch weiter. Leise und ruhig erklärte ich Fiona alles, was ich noch aus dem Biologieunterricht behalten hatte zum Thema Knochen. Ich zeigte ihr, wo Handwurzel-, Mittelhand- und Fingerknochen sind und ließ sie raten, welcher der fünf Finger nur 2 statt 3 Fingerglieder hat. Ich flüsterte die ganze Zeit mit ihr, nicht nur um sie, sondern auch mich selbst zu beruhigen. Nach etwa 20min blieb ein junger Arzt an unserem "Wartezimmer" stehen, sah das kleine geknickte Mädchen auf meinem Schoß, nickte seitlich mit dem Kopf und sagte "Kommen Sie mal mit". 3 Kreuze!!!

Nach kurzer Begutachtung der Hand (ein bisschen geschwollen und minimal abgeschürfte Haut) schickte er uns sicherheitshalber in die Nachbarabteilung zum Röntgen. Warten mussten wir zwar an allen "Stellen", aber glücklicherweise nicht so lange. Bilder wurden gemacht, wir nahmen wieder in unserem dunklen Wartezimmer Platz und wurden kurz darauf von einem netten Pfleger abgeholt, der uns direkt ins "Gipszimmer" brachte.
Die Röntgenbilder hatten einen glatten Bruch gezeigt, kurz hinter dem Handgelenk an der Speiche.
Shit!


Ich hielt die Familie (meinen Mann vor der Rettungsstelle und meine Mama zu Hause) per whatsapp auf dem Laufenden, während Pfleger Vincent im grünen Kittel Witze mit Fiona machte und ihr so die Angst nahm: "Guck mal, erst eine Schicht Watte, dann Krepppapier...ist fast wie Basteln!". Sie suchte sich einen roten Verband aus, erklärte, wen sie alles darauf unterschreiben lassen würde, und hatte den ersten Schreck mit dem frisch eingegipsten Arm scheinbar schon überwunden.

Wir bekamen Bilder und Arztbericht mit, nahmen unseren emotional ebenso angeknacksten Papa und fuhren wieder zu meinen Eltern.
Dort sammelten wir das satte (und glücklicherweise zufriedene) Baby ein und berichteten kurz, bevor es nach Hause ging. Papa räumte freiwillig das Feld und ließ Fiona in seinem Bett schlafen. Ich war unendlich müde und hellwach zugleich, konnte kein Auge zumachen bis weit nach Mitternacht, Papa im Wohnzimmer auf der Couch erging es ähnlich. Fiona wachte mehrmals auf, weinte und rief im Schlaf: "Aua! Aua! Nein!". Wie man da als Eltern leidet, brauche ich wohl nicht extra erwähnen.
@Endwinterwunder schrieb auf twitter: "Kinderschreie machen Beulen in Elternseelen."

Während ich also mitten in der Nacht meine "Beulen" kühlte, wurde auch das Baby ungewöhnlich oft wach, hat vermutlich mein Adrenalin mit der Muttermilch übergeholfen bekommen...
Am nächsten Morgen sollten wir direkt zum Chirurgen. Der relativierte die verordneten 6 Wochen und sagte, er würde nach 8 Tagen den Gips entfernen und dann entscheiden, ob erneut gegipst wird oder ggf. eine Schiene reicht. Inzwischen ist eine Woche vorbei und der Gips hat schon ganz schön gelitten. Nicht nur, dass ausgerechnet jetzt der Sommer angekommen ist und schweißtreibende 40°C mitgebracht hat. Zusätzlich dazu steckt bestimmt schon jede Menge Sand aus dem Kindergarten drin und baden gegangen ist er auch schon versehentlich, als die drübergebundene Tüte geplatzt ist. Und wie wir so standen und den Gips föhnten, waren wir alle sehr froh, dass er in ein paar Tagen erstmal ab kommt...


Das ist wohl eine der nicht so schönen Erfahrungen, die zum Elternsein dazu gehört. Ich jedenfalls bin im Gegensatz zur kleinen Patientin immer noch ein bisschen mitgenommen und "emotional inkontinent", wie es Andrea Harmonika mal so schön genannt hat.

Habt ihr auch schon Momente erlebt, in denen euer Herz vor Schreck stehen geblieben ist?

16 Kommentare:

  1. Ach, du liebe Zeit. Hatte Gänsehaut von der ersten Zeile an und bin zum Ende deines Berichts einfach total erleichtert, dass es Fiona schon besser geht. Gips bei 40 Grad ist bestimmt kein Spaß, aber hey, in rot schaut er wenigstens verdammt cool aus. Ich finde, wenn man sich die Szenen im Krankenhaus vorstellt mit den Betten voller kranker Menschen und dem wenigen Personal, dass da im wahrsten Sinne einen Knochen-Kob leistet, dann wird man wieder für einen Moment nachdenklich. Alles, alles Liebe für Fiona - wahrscheinlich hätte ich meine Nerven nicht so gut unter Kontrolle bekommen und mich schon gar nicht an irgendwelche Bio-Stunden erinnert ;) Sina

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    1. Danke für deine lieben Worte, Sina! Wir hatten ja Glück im Unglück, es hätte auch noch schlimmer kommen können. Trotzdem standen wir beide unter Schock und völlig neben uns für ein paar Tage...ich drück dich!

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  2. Wuah, ich bin beim Lesen schon ganz mitgenommen! Diese Vorstellung, das Kind steckt da Fest und hat Schmerzen und man kriegt den Arm nicht raus- das macht mich ganz fertig!
    Ich wünsche Euch Allen gute Genesung und viel Heilungskuscheln für Deine verbeulte Seele! <3
    Liebste Grüße
    Thea

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    1. Ich glaube, das Gefühl des Feststeckens war auch für Fiona mindestens so schlimm, wie der Schmerz selbst... Aber jetzt ist ja glücklicherweise schon fast alles wieder vergessen. Danke dir, auch für deine "Erste Hilfe" bei Twitter am selben Abend!

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  3. Sch.....Tor! Tut mir leid für Sie...und Dich.
    Ich hatte mal ihre Cousine im Fahrstuhl verlohren...ich schob den Wagen mit Kind 1 raus und Kind 2 kam irgendwie nicht mit...bzw schloss die Tür sehr unerwartet und das letzte, was ich sah, war die ausgestreckte Hand und die schließende Tür. Ich kanns heute, 18 Jahre spaeter nicht mehr genau rekonstruieren, ich weiß aber noch, dass sie so los geschrien hat, dass ich das Schlimmste annahm, als ich eine Etage höher den Fahrstuhl abfangen konnte... Hand u Kind waren aber in einem Stück! Aber geschrien hat sie so, dass ich Angst vor dem mich erwartenden Anblick hatte..., naja...Du kannst es dir sicher vorstellen... GUTE BESSERUNG!

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    1. Bei der Vorstellung wird mir allerdings auch schlecht...
      Danke!

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  4. Da bekomme ich glatt Gänsehaut vom Lesen und kann den Schrecken verstehen. Das kann nur nachhallen.
    Ich wünsche der kleine Maus schnelle gute Besserung !!!
    Viele Grüße
    die Eurydike (eurydikeswelt.com)

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  5. Aua, das tut ja schon beim Lesen weh :-(
    Alles Gute für die kleine flügellahme Patientin.
    Wir hatten mit Bea damals mehr als genug solcher Momente "Kind ins Auto und ab ins Krankenhaus"...

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    1. Danke! Das muss man als Eltern wohl mitgemacht haben...

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  6. Oh mein Gott, da bekomme ich beim Lesen eine dicke Gänsehaut - und einen richtigen Flashback: es ist nämlich noch keine 5 Wochen her, da hatte unsere Große bei der Hochzeitsfeier von Freunden einen Sturz mit einem Kinderroller und auch ich hab den Schrei zwischen den ca. 150 Gästen sofort erkannt und werden den Anblick so schnell nicht vergessen wie sie schreiend und blutüberströmt auf mich zugerannt kam... einer der oberen Schneidezähne locker und schief... zum Glück war der Vater des Bräutigams Zahnarzt und hat erste Hilfe geleistet, weshalb uns die Fahrt ins Krankenhaus erspart blieb. Mir hat es trotzdem erst mal die Füße weggezogen und auch heute noch wird mir richtig schwindelig, wenn ich daran denke...

    Ich wünsche Fiona alles Gute für Ihren Arm und drück auch Dich in Gedanken nachträglich nochmal ganz fest...

    LG!

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    1. Danke dir! Da kriege ich direkt Gänsehaut beim Lesen... Man macht schon ganz schön was mit als Mama!

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  7. Hatte bei Lesen Tränen in den Augen, der Alptraum aller Eltern... diese Hilflosigkeit. Wir hatten hier vom großen Sohn nur einen eingeklemmten Finger, das hat mir schon gereicht. Und das Töchterchen hat es (ähnlich wie bei Meeris Kommentar) geschafft, sich während der Kommunionfeier meiner Nichte sich die Zähne abzubrechen (da war sie 3) gottseidank ist auch nicht viel von den Schneidezähnen abgebrochen, aber blutüberströmtes, schreiendes Kind... das war nicht schön.
    LG
    Christiane

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    1. Um Himmels Willen! Da wird einer jeden Mama beim Lesen schon ganz anders...

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  8. Hab "Gute Besserung!!!!!" vergessen...
    LG
    Christiane

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