Montag, 15. Oktober 2012

Sto lat, Sto lat

...ist ein polnisches Lied mit dem Bekanntheitsgrad von "Happy Birthday" bei uns und heißt übersetzt "100 Jahre". So alt soll derjenige werden, der besungen wird, an Geburtstagen, Namenstagen, Hochzeiten oder einem anderen Jubiläum.

Dass die Polen gerne und viel singen, wusste ich.
Dass sie trinken können, auch.
Aber WIE sie tatsächlich feiern können, wusste ich bis Samstag Abend noch nicht...





Wir waren am Wochenende zu der Hochzeit eines Bekannten in den Südwesten Polens nach Karpacz im Riesengebirge am Fuß der Schneekoppe eingeladen.
Nach etwa 4 Stunden Fahrt (mit Pause und sehr gutschmeckenden Pierogi, also gefüllten Teigtaschen mit Kartoffeln, Zwiebeln und Käse) ließen wir nur schnell die Koffer im Hotel fallen und fuhren gleich weiter nach Karpacz, zu Deutsch "Krümmhübel". Dort gibt es nämlich eine Sehenswürdigkeit, bei der man auf den ersten Blick gar nicht so viel sehen kann: eine Gravitationsanomalie.
Über eine Strecke von etwa 400m rollen vollbesetzte Autos im Leerlauf erst langsam und dann immer schneller bergauf, ohne zusätzlichen Antrieb! Ich hatte es vorher im Internet recherchiert (click) und konnte beim besten Willen nicht glauben, was dort stand - bis ich es mit eigenen Augen gesehen habe. An der kurvigen Bergstraße stehen ein buntes Schild und eine kleine Tafel, die in 4 Sprachen beschreibt, was mit Autos, Flaschen und anderen Gegenständen an dieser Stelle passiert. Nicht nur wir, sondern auch andere Autos fuhren immer wieder zurück, um nochmal ungläubig mit Gangschaltung im Leerlauf bzw. bei Automatik auf "N" staunend den Berg hinaufzurollen. Die Gravitationsanomalie in Karpacz (und an weiteren Orten auf der Welt) ist ein wissenschaftlich bewiesenes, aber bisher noch nicht erklärbares Phänomen. Lustig, wie die Menschen am Straßenrand stehen und mit offenen Mündern einer in die falsche Richtung rollenden Flasche hinterhergucken...
("Halt den Ball gut fest, sonst rollt er den Berg rauf und ist weg...")

Für alle, die es auch nicht glauben können: hier rollt sie, die Flasche...


Anschließend ging es noch zur Kirche Wang, einer mittelalterlichen Stabkirche, die im norwegischen Vang erbaut und Mitte des 19. Jahrhunderts vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. ins Riesengebirge gebracht wurde.
Das besondere an dieser Kirche ist die Tatsache, dass sie ohne auch nur einen Nagel erbaut wurde.
Weil wir den Nachmittag mit herumrollenden Flaschen verbracht hatten, war es mittlerweile schon ziemlich schummrig geworden. Das sparte uns nach 18 Uhr zwar den Eintritt und die Parkplatzkosten, warf aber - im wahrsten Sinne des Wortes - auch nicht das beste Licht auf die schöne Kirche. Bei immerhin noch 29% Akku beschloss mein Handy, was an dem Wochenende hauptsächlich als Kamera unterwegs war, es habe genug gesehen und ging einfach aus...


Am nächsten Morgen zogen alle Hochzeitsgäste in den extra dafür angelegten Hochzeitspalast um. Dort kann man nicht nur Fotos vor einer wunderschönen Kulisse machen und feiern, bis der Arzt kommt, sondern man kann nach der Party einfach ein paar Stufen hochstolpern und ins Bett fallen, wenn man sich bei der polnischen Art zu festen den Sender verbogen hat ^^
 
Blick aus unserem Hotelzimmer
Kastanien gab es auch zu genüge - Koffer voll!
Mit einem großen Bus wurden wir kurz vor 15 Uhr zur Kirche gebracht und bewunderten kurz darauf die hübsche Braut, wie sie zum Altar geführt wurde (Nono flüsterte einen Moment vorher: "Mama, wann kommt denn der Braut?"). Die Messe wurde auf Polnisch abgehalten, Vieles hat eine Dolmetscherin am Mikro aber für die deutschen Freunde und Verwandten übersetzt. Nachdem in einem Rutsch mit der Trauung noch der gemeinsame Sohn Alexander getauft worden war, wurde Reis und Konfetti geworfen, gratuliert und anschließend zurück in den Eventpalast gefahren.
Fiona hat es sich übrigens auf der Kirchenbank und meinem Schoß bequem gemacht und die gesamte Zeremonie gemütlich verschlafen. Das war hinsichtlich ihrer Stimmung am Abend sehr positiv, war sie doch sehr lange sehr gut drauf beim Feiern, aber für mich, die ich nun immer sitzen bleiben musste, wenn alle Leute aufstanden (und das war wirklich oft!), eher unpraktisch. Ich fühlte mich in der Perspektive wie ein kleines Kind in einer Menge großer Leute und bekam vom Täufling überhaupt nichts mit. Nur ein kleiner Protestschrei verriet mir, dass da wohl gerade Wasser von oben gekommen war...
 
Vor dem Hochzeitspalast wurde der rote Teppich für das Brautpaar ausgerollt und es erklang zum ersten (aber weiß Gott nicht zum letzten!) Mal "Sto lat" - 100 Jahre sollt' ihr werden. Fiona erklärte zur Freude aller Umstehenden, sie habe "einen Bärenhunger" und könne "einen Elch verschlingen". Als wir allerdings noch nicht mal mit der Vorspeisensuppe fertig waren, wollte sie schon tanzen gehen. Ich staunte nicht schlecht, dass Nono Kartoffeln, Klöße in Donut-Form, Sesamschnitzel und Braten links liegen gelassen und stattdessen einen Brokkoli-Strauß nach dem anderen gegessen hat. Als sie 6 Stück (!) intus hatte, war es schwer, sie davon abzuhalten, sofort die Tanzfläche zu stürmen. Als dann das Brautpaar ENDLICH den Eröffnungstanz aufs Parkett gelegt hatte, konnte es losgehen. Es wurde gesungen und getanzt, was das Zeug hielt. Zwischendurch wurde häufig angestoßen: auf die Braut, den Bräutigam, die Trauzeugen, die Eltern, die Freunde, die.... Prost - Nazdrowie!
 

 Das eine Essen war noch nicht ganz vom Tisch, da wurde schon das nächste gebracht. Erst kaltes Buffet mit vielen Salaten, gegen 23 Uhr nochmal eine warme Mahlzeit (Nudeln und Fleisch), dann die vierstöckige Hochzeitstorte und als wir schon selig schlummerten, gab es für die ausdauernden Tänzer nochmal einen Snack mitten in der Nacht.
Man saß nie lange auf seinem Platz: entweder kam jemand mit einem Glas Farblosem vorbei und wollte auf das schöne Wetter, die Nachbarn oder die Feier anstoßen oder man wurde zum Tanzen auf die Bühne geordert. Genau zur richtigen Zeit (und dem richtigen Pegel) gab ein ganzer Saal ungeniert ein Volk Enten zur Musik oder tanzte ausgelassen Polonaise. Bei Hits wie "Kalinka" tobte und klatschte die Menge, Beine und Röcke flogen nur so und der Vodka floss...
Fiona hat übrigens scheinbar etwas ganz Entscheidendes von mir geerbt: die Fähigkeit, immer und überall zu schlafen. Bei einem Lautstärkepegel, der nahe an einem startenden Flugzeug gewesen sein muss, legte sie sich in einer Ecke des Partysaals auf den Boden, ließ sich zudecken und schlief einfach ein. Kein panisches Treppenrennen im 15min-Abstand, um zu gucken, ob das Kind noch schläft, kein dekoratives Babyphon am Ausschnitt - einfach hinlegen und weg. Toll!

Am nächsten Morgen traf sich die Hochzeitsgesellschaft zum Frühstück und ich staunte mit ziemlich kleinen Augen, dass z.B. die Trauzeugin, die locker als Animateurin in einem Club arbeiten könnte, schon wieder topfit und vor allem in Topform war. Gut drauf ("Sto lat, sto lat...."), kurzes Kleid und wieder hohe Hacken - meine Füße waren von den weißen Riemchensandalen mit Mini-Absatz so gebeutelt, dass ich zum Schluss barfuß getanzt habe und auch am nächsten Morgen nur unter Schmerzen in die normalen Schuhe gekommen bin. Der Bräutigam kommentierte die quietschfidele Trauzeugin mit den Worten: "...die hat Duracell-Batterien gefressen..." :)

Fiona fragte direkt, ob wir nochmal Hochzeit feiern würden, denn "wir hatten einen Riesenspaß"!
Beim Frühstück musste man sich übrigens für den Kaffee an der Bar anstellen, der Vodka stand direkt auf dem Tisch. Soviel dazu ^^

Ich bin ja nicht der große Trinker und habe mich deshalb an meinen paar Gläsern Weinschorle festgehalten, denn der Anstoß-Vodka hatte mir schon schlückchenweise beim ersten Glas gereicht. Hui! Meine Mama hat sich heimlich Wasser ins Vodka-Glas gefüllt und konnte dann fröhlich mitprosten, allerdings nur, bis besagte Trauzeugin mit der Flasche zum Nachschenken vorbeikam... Ätsch!

Gestern ging es dann wieder in Richtung Heimat, übrigens zufällig an einem großen Basar vorbei. Meine Mama: "Auf einem Polenmarkt kannst du alles kaufen, von einer Atombombe bis zum Kronkorken..."
Wir sind allerdings atombomben- und kronkorkenlos weitergefahren und waren ohne Pause in 3 Stunden wieder in Berlin, wo wir uns bei einer Tasse Kaffee erstmal über den mitgebrachten Kuchen hergemacht haben :) Beim Kofferaus- und Sachen-in-den-Schrank-Packen überkam mich ein plötzlicher Aufräumanfall. Den sollte man entweder schnell liegend auf der Couch veratmen oder sich ihm stellen. Ich tat tatsächlich Letzteres und räumte etwa 2 Stunden in Fionas Kleiderschrank rum mit dem Ergebnis, dass Bodies in Größe 74, Babyhosen, Mini-T-Shirts, Handschuhe mit 3cm langen Fingern und weitere Relikte aus der Vergangenheit nun endlich in einen blauen Sack umgezogen sind. Was sich als kiloschwerer Berg angesammelt hat, von dem ich vor 3 Jahren noch nicht gedacht hätte, dass man es tatsächlich benötigen würde, sind Strumpfhosen. Bei Strumpfhosen denke ich immer an Robin Hood, hätte sie nie freiwillig meinem Kind angezogen. Und auf einmal wohnen davon zwei Dutzend in den Tiefen des Kinderzimmerschrankes und kein Robin Hood weit und breit. Komisch... ;)



P.S. Wer nach dem Lesen noch eine Minute Zeit hat und etwas Gutes tun möchte, darf oben links gerne auf den Link zur DiBa-Vereinsaktion clicken. Es geht um 1000€, die gespendet werden und die wir mit unserem Verein "VivaMusica macht Musik e.V." gut gebrauchen könnten. Es funktioniert ganz leicht und ohne Registrierung, per SMS aufs Handy. Vielen Dank für eure Hilfe!

8 Kommentare:

  1. Das mit der Flasche bzw. den Autos fasziniert mich jetzt. Wie ist das möglich? Danke für dieses neue Wissen! =) GlG Mari

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    1. Man vermutet große Heißwasservorkommen unter der Erde, gibt bisher aber tatsächlich keine wirkliche Erklärung dafür ;)

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  2. Wie geht das mit dem Schlafen immer und überall??? Verrate mir das! Bitte! Ich schätze, bei unserem Seminar in zwei Wochen fällt für mich der Punkt "Treffen an der Hotelbar" aus, Babymädchen schläft gar nicht mehr :(
    Wie kommt es, dass mich gerade ein Hungergefühl und noch größere Gelüste heimsuchen??? Ich will Pierogi oder wie die heißen oder noch besser direkt eine Auswahl vom gesamten Hochzeitsbuffet!!! Oh, das klingt nach einem traumhaften WE mit traumhaftem Essen und einem traumhaften Kind :) Hab ich schon mal erwähnt, wie sehr ich mich auf euch freue und wie aufgeregt ich zugleich bin ;) ? Dicke Umarmung. Sina

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    1. Danke für deinen lieben Kommentar! Ich freue mich auch so wahnsinnig auf euch :) Hätte nie gedacht, dass der Wunsch mit unserem Treffen so schnell in Erfüllung geht :-*

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    2. PS. Das mit dem immer-und-überall-schlafen ist auch so ein unerklärbares Phänomen wie das mit der bergaufrollenden Flasche ^^ muss in den Genen liegen, ich hab das als Kind auch gemacht, egal wie laut es war und vor allem, egal wo ich war...

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  3. Wow das nenne ich doch mal Aktion :-) Super Artikel - hat wie immer Spaß gemacht bei dir zu lesen ;) Das mit dem Überall-Schlafen klappt bei Babykeks auch noch und hoffentlich wird er das auch nie verlieren. Außerdem muss ich gestehen, dass ich manchmal das Gefühl habe mittlerweile auch überall schlafen zu können, seit es Söhnchen in meinem Leben gibt *hihi*
    Liebste Grüße
    Sabrina

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    1. Danke dir, liebe Sabrina!
      ich war bei meiner Einschulung fest davon überzeugt, dass die Mittagsschlafzeit ein für alle mal überstanden ist. Hat sich auch wieder geändert seit Fiona auf der Welt ist. Man muss erstens die Feste feiern wie sie fallen und zweitens schlafen, wenn man kann ^^

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